Klänge aus der Dunkelkammer
Musikfest Stuttgart: Mit einem Symposium wird das Thema Nacht unterfüttert, und das Kairos Quartett spielt im stockfinsteren Raum. Licht aus! 50 Zuhörer im Probensaal der Internationalen Bachakademie können am Montagabend die Hand vor Augen nicht sehen. Es ist stockduster im Raum. So ähnlich, denken jene, die zuvor im Symposium „Die Musik der Nacht“ den Ausführungen des österreichischen Komponisten Georg Friedrich Haas lauschten, müssen Menschen vor der Entstehung von Lichtsmog und Luftverschmutzung jahrtausendelang die Nacht erlebt haben. Wer immer wieder vollständiger Finsternis ausgeliefert ist, muss das Licht als Gottesgabe empfinden – und das Unfassbare, Ungreifbare, Unbegreifliche, Dämonische der Dunkelheit fürchten. Man könne noch gehen, verkündet der Dramaturg Michael Gassmann vor dem denkwürdigen Ereignis – man könne noch gehen, wenn man es sich nicht zutraue, 50 Minuten in der Dunkelheit auszuhalten. Man solle unbedingt gehen, warnt Haas, der das Streichquartett „In iiij noct.“ 2001 als „Verbalpartitur“ konzipierte, denn er wolle mit seiner Musik auf keinen Fall einem Zuhörer Schmerzen zufügen. Klar, dass nach diesen Worten keiner gehen will. Packendes im Dunkeln erlebt man nicht alle Tage. Das Kairos-Quartett verteilt sich im Saal. Dann geht das Licht aus. Dem Publikum wird schwarz vor Augen. Die Quadrofonie beginnt mit einem Abtasten des Klangraumes. Allein gelassen mit den Klängen, dienen den Zuhörern das leise Sirren und kratzende Kreisen der Klänge in den vier Ecken als alleinige Orientierung. Die Zeit längt sich. Sie entgleitet. Nach zwei Dritteln des Stücks, hat Haas versprochen, soll ein Zitat aus einem Madrigal des italienischen Komponisten Carlo Gesualdo zu hören sein, das an der Bruchstelle zwischen Renaissance und Frühbarock entstand. Man wartet auf Musik von dem Mann, der seine Frau mitsamt ihrem Liebhaber umbrachte, doch sie will einfach nicht kommen. Ob die Musik in einem beleuchteten Zimmer wohl viel leiser klänge? Jetzt ist sie so laut. Es trillert, Obertöne werden umspielt, ätherische Flageoletts flöten, Töne gleiten aufwärts, abwärts, neue Impulse kommen aus unterschiedlichen Richtungen, werden auf anderen Positionen aufgenommen, verändert, imitiert. Die Streicher des Kairos Quartetts verstehen sich blind, und bei manchen zweistimmigen Passagen mag man meinen, einer von ihnen hätte seinen Standort verlassen und sich im Dunkeln einem anderen zugesellt. Hat er aber nicht. Weil das Quartett seine Augen ebenso wenig benutzen kann wie das Publikum, entfernt sich das Stück unweigerlich von jenen fein ausgearbeiteten Klangwelten, für die der 57-jährige Komponist weltweit gefeiert wird. Als Erlebnis ist „In iij noct.“ überzeugender denn als Komposition (die es im strengen Sinne ja auch nicht ist). Und nach einer wirkungsvollen Pizzicato-Stelle nutzt sich das Vokabular spürbar ab. Auf die Verneigung vor Gesualdo, die schließlich doch noch kommt, folgt nicht mehr viel. Doch die Energie der Musik, nein vor allem die Energie der Musiker füllt den Raum, und sie ist auch noch da, als das Licht im Saal wieder angeht. Mit dem Dunkel schwindet der Zauber. Man vergisst ihn aber nicht.
Susanne Benda, Stuttgarter Nachrichten v. 1. September 2010